Nationen und ›ihre‹ Sportarten sind bisweilen geradezu symbiotisch aufeinander bezogen. So fallen einem bei Fußball sofort England und Deutschland ein, bei Cricket England und Indien, bei Baseball, Basketball, Football und Golf vor allem die USA. »To be an American and unable to play baseball«, heißt es in einer Kurzgeschichte des amerikanischen Autors John Cheever, »is comparable to being a Polynesian and unable to swim« (Cheever 1965, S. 435, zit. nach Lobmeyer 1983, S. 79). Sieht man einmal von offiziell festgelegten Nationalsportarten wie Hockey in Pakistan, Lacrosse und Eishockey in Kanada oder Pato in Argentinien ab, dann sind Kopplungen von Sportarten und Nationen sicherlich in erster Linie das Ergebnis vielfach wiederholter Zuschreibungen in der Sportberichterstattung, die bisweilen schon den Charakter verfestigter Narrative gewonnen haben – relativ unabhängig von der realen Verbreitung und Beliebtheit der jeweiligen Sportart sowie den in ihr erzielten Erfolgen. Denn was beispielsweise den Fußball angeht, ist Frankreich derzeit vielleicht medial präsenter und in den verschiedenen internationalen Wettbewerben erfolgreicher als Deutschland. Dennoch gilt Deutschland neben England als die Fußballnation par excellence.
Was aber motiviert die Zuordnung bestimmter Sportspiele zu nationalen Narrationen? Oder anders gefragt: Woher gewinnt die Sportberichterstattung ihre Sicherheit in der Korrelation von Sportarten und Nationen? Ein Faktor ist sicherlich der, dass manche Sportarten mit als spezifisch amerikanisch geltenden Eigenschaften aufgeladen, diese dann in den Spielern wiedererkannt und von Zuschauern wie auch den Spielern auf den individuellen eigenen wie auch den kollektiven sozialen Körper der Nation appliziert werden können: »Qualities that were supposedly American were imputed to football and baseball, which, in turn, were presumed to generate those values in the players.« (Mrozek 1983, 167; vgl. auch 174)
Jenseits der Reproduktion vermeintlicher Charaktereigenschaften – diese aber durchaus integrierend und stützend – lässt sich am Beispiel der USA aber auch zeigen, dass manche Sportspiele in besonderer Weise geeignet sind, als Illustrationen bzw. als regelrechte Inszenierungen wichtiger nationaler Narrative (und bisweilen auch Mythen) sowie der in deren Zusammenhang verwendeten bildlichen Redeweisen (Symbole und Systeme von aufeinander bezogenen Symbolen) zu fungieren. Schauen wir uns daher zunächst an, wie das US-amerikanische Symbolsystem aussieht, auf das in Alltag, Medien und Literatur regelmäßig immer dann zurückgegriffen wird, wenn es gilt, wichtige Ereignisse und Entwicklungen prägnant darzustellen, und zwar so, dass sie für jedermann und jedefrau verständlich werden. In einem zweiten Schritt wird dann gezeigt, inwiefern einzelne Sportspiele als Umsetzungen des Symbolsystems verstanden werden können, was zugleich heißt, dass das Symbolsystem im Sport reproduziert, dadurch stabilisiert und an sportive Narrative gekoppelt wird.
Ein Ansatz zur kulturwissenschaftlichen Erforschung von Symbolen, Räumen und Narrativen in interkultureller Perspektive, der seit den 1980er Jahren entwickelt wurde, ist derjenige der Kollektivsymbolanalyse bzw. der sie rahmenden Interdiskurstheorie (vgl. Link 1991, Parr 2011). Dabei geht es darum, dass jede moderne Kultur einen Vorrat an kollektiv verwendeten und kollektiv verstehbaren Symbolen (bildlichen Redeweisen) vom Typ ›unser Boot ist voll‹, ›wir sind die Mitte‹ oder ›auf zu neuen Gipfeln‹ entwickelt hat und zur Nutzung in den verschiedensten thematischen Zusammenhängen parat hält. In ihrer Gesamtheit bilden solche Symbole ein eng aufeinander bezogenes System von Anschauungsformen, mittels dessen die in einer Kultur relevanten Diskussionen und Ereignisse kodiert und ebenso alltagsnah wie prägnant formuliert werden können (vgl. dazu ausführlich Parr 2013). Zeichnet man das Zusammenspiel solcher Kollektivsymbole, die in medialen und politischen Diskursen, aber auch in der ›hohen‹ Kunstliteratur (vgl. Lobmeyer 1983) ständig genutzt werden, als ein System von sehr eng aufeinander bezogenen Achsen, Äquivalenzen und Werthierarchien nach (vgl. Link 1991, Parr 2013), durch das hindurch unser kulturelles Selbstverständnis wie durch einen Filter perspektiviert wird, dann zeigt sich, dass Kollektivsymbolsysteme stets auch eine Form der kulturellen Raumkonstruktion darstellen. Sie sind nämlich kollektiv geteilte ›mental maps‹, die es erlauben, diskursive Strukturen als verräumlichte Ordnungen zu denken und die damit gewonnenen Vorstellungen auch wieder auf konkrete Räume zu applizieren. Gerade solche mentalen räumlichen Vorstellungen lassen sich aber besonders gut auf die ›Lage‹ ganzer Nationen beziehen.
Die Analyse von Symbolsystemen gehört damit zu den wenigen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die gleichermaßen nach der Übersemantisierung tatsächlicher geografischer Räume in medialen Texturen wie auch nach den Semantisierungen imaginierter Räume sowie nach dem Zusammenspiel beider fragen können. Weiter ermöglicht dieser Ansatz »sowohl eine Anwendung auf konkrete räumliche Gegebenheiten als auch eine« semantisch-strukturelle »Beschreibung von nicht-räumlichen Phänomenen, bei der die Bezeichnungen für räumliche Relationen metaphorisch verwendet werden« (Dennerlein 2009, 29).
Charakteristisch für das US-amerikanische System der Kollektivsymbole ist – anders als im Falle des deutschen – nicht die räumliche Vorstellung einer kreisförmigen Entität mit Abstufungen der Rundum-Verteidigung seiner Grenzen nach außen, sondern – wie Link (1991) gezeigt hat – eher die Vorstellung einer dynamischen Ellipse mit ›homebase‹, ›family‹ und einem noch dahinter liegenden geschützten ›backyard‹, einem weiten Raum, der von der Basis aus beherrscht, reguliert und überwacht wird, sowie der ›frontier‹, die ständig in Richtung ›new frontiers‹ und ›new horizons‹ hinausgeschoben wird, also in Richtung auf alles, was noch zu entdecken, zu besiedeln, zu erobern und zu kolonialisieren ist (s. Abb. 2). Diese Grundstruktur wird in den verwendeten Symbolen durch die enge Kopplung von ›exploration‹ und Rückkehr zur ›homebase‹ deutlich. In solchen Symbolen hat der Go-West-Mythos der amerikanischen Siedler sich dem amerikanischen Symbolsystem ein Stück weit eingeschrieben. Heute steht dafür eher die Raumfahrt, insbesondere das Space Shuttle, weil es in idealer Weise eine Bildlichkeit für das Hinausgehen über die ›Grenze‹ in Richtung ›neue Horizonte‹ mit anschließender Rückkehr auf die ›homebase‹ abgibt.
Andere Symbole, die in den USA von großer Wichtigkeit sind und die sich diesem Grundschema einfügen, sind beispielsweise Staffeln aller Art, wie man sie aus der amerikanischen Werbung kennt: keilförmige Formationen von Wasserskifahrern, Motorbooten, Autoflotten oder Flugzeugen mit einer Spitze als Avantgarde und breitem ›backyard‹. Die Explorerbewegung kann dabei genutzt werden, um Abstufungen innerhalb eines Rankings herzustellen (weite oder weniger weite exploration usw.), was wiederum eine Schnittstelle zur Applikation auf Sportspiele mit ihren vielfältigen Formen von Rankings bzw. Score Boards eröffnet.
So rudimentär und lediglich heuristisch diese wenigen Anmerkungen sind, machen sie doch bereits klar, dass sich die synchronen Systeme von Kollektivsymbolen in den einzelnen Kulturen deutlich voneinander unterscheiden und insgesamt zur Ausbildung ganz unterschiedlicher Raumvorstellungen führen. Was die US-amerikanische Kultur angeht, so sind es unter anderem die für typisch amerikanisch angesehenen Sportarten, die mit ihren Spielszenarien zugleich Narrative bereithalten, mittels derer an das amerikanische Symbolsystem angeschlossen werden kann.
Wie sieht dieser symbolische »›impact‹« (Link 1991, 115) der für spezifisch amerikanisch geltenden Sportarten nun genau aus? Steven A. Riess hat darauf hingewiesen, dass der amerikanische Sport »in der Kolonialzeit« vor allem »ein Produkt aus der britischen Tradition und dem Leben an der Frontier« gewesen sei (2012, 9). So betrachtet, kann Baseball als modern-sportive Applikation des amerikanischen Go-West-Mythos gelesen werden: Herausgefordert durch den Wurf eines im weiten Raum befindlichen Pitchers (Werfers), führt der darauf antwortende Schlag des Hitters (auch Batter genannt) zurück in die Weite des tendenziell feindlichen, noch nicht bekannten Raumes, den der Läufer entlang von vier Laufmalen umrundet bzw. erkundet, um möglichst in einem Zuge (home run) entlang von vier Basen, an denen man auch Halt machen kann, wenn der Gegner den Ball zu schnell gefangen hat, wieder zur heimatlichen Basis (homeplate/homebase) zurückzukehren. Was Baseball damit als Sportspiel inszeniert, gleicht von der Grundnarration der Heldenreise her beinahe jedem traditionellen Western im Kino und auch Fernsehserien vom Typ »Star Trek«: Der Held wird durch irgendetwas oder irgendwen in der Weite des Raumes herausgefordert; er verabschiedet sich von seiner Familie, seiner Frau oder Verlobten auf der Veranda des eigenen Hauses, zieht los, besteht Abenteuer, löst das mit der Herausforderung verknüpfte Problem und kehrt im Idealfall zu Frau, Familie und homebase zurück.
Der Explorerbewegung entspricht beim Baseball der sich zunehmend öffnende Winkel des Spielfeldes sehr genau. Baseball-Stadien wie das der »Bears« in Cincinnati (»Great American Ballpark«) sind zudem im Viertel der größten Entfernung von der homebase häufig offen (Abb. 1), sodass die Explorerbewegung auch über das Stadion hinaus in die Weite gedacht werden kann (Abb. 3); zugleich bilden im Falle von Cincinnati die Wolkenkratzer des Finanzdistrikts einen eindrucksvollen ›befestigten‹ ›backyard‹ (Abb. 4). Insgesamt hat man es hier mit einer architektonischen Applikation des Go-West-Mythos zu tun, der zugleich innerstädtisch verankert wird (vgl. Riess 1989), so dass sich die Parallelen zwischen eigentlichem Spielgeschehen und Explorerbewegung noch einmal fortsetzen lassen (vgl. auch das Giants Baseball-Stadion in San Francisco [»Oracle Park«]; das Yankee-Stadion in New York und viele andere mehr).
Anders, aber dann doch auch wieder ähnlich, sieht es im Falle von Basketball aus. Hier ist der schnelle Wechsel von Angriff und Verteidigung charakteristisch, von abermals Explorerbewegung in die gegnerische Hälfte des Spielfeldes durch die angreifende (!) Mannschaft und dann sehr schnellem Rückzug zur Verteidigung der eigenen homebase, des eigenen Korbes. Auch beim Golf gleichen die langen Distanzschläge den Explorerbewegungen in ein zumindest im Detail unbekanntes Terrain, während das Putten eher die Rückkehr zur homebase signifiziert. Sind Golfplätze mit ihren meist zirka 15 Löchern dann auch noch stern- oder kreisförmig in der Landschaft angeordnet, so wird diese Bewegung auch noch einmal auf einer Metaebene wiederholt; und nicht zuletzt ist auch das Joggen eine Form der Bewegung im Raum mit Rückkehr zum Ausgangspunkt. American Football schließlich kann als kriegerisches Geländegewinnspiel angesehen werden, das einen vergrößerten Ausschnitt aus den Explorer-Szenarien der anderen Sportspiele darstellt, einen Ausschnitt, der – bezogen auf das Symbolsystem und das mit der dynamischen Achse verbundene ›Score Board‹ – im Raum zwischen ›frontier‹ und ›new frontiers‹ angesiedelt ist. Jeweils eine Mannschaft hat dabei das Offensivrecht; die andere verteidigt. In beiden Fällen sind die Positionen der Spieler (wie ›quarterback‹, ›fullback‹ und ›center‹ im Modus der ›offense‹ bzw. ›defensive end‹, ›linebacker‹ und ›strong safety‹ im Modus der ›defense‹), so angeordnet, dass sie einen analog zum Symbolsystem strukturierten Raum mit gesichertem ›backyard‹ und hinauszuschiebender ›frontier‹ bilden.
Die für die Gesellschaft der USA besonders wichtigen Sportspiele reproduzieren Elemente des amerikanischen Systems der medial kursierenden Symbole, der damit verbundenen Raumvorstellungen sowie der mittels dieser Symbole erzählbaren Narrative. Sport und Nation rücken dadurch nicht einfach nur besonders eng zusammen, sondern beide können vielmehr wechselseitig aufeinander abgebildet werden, wodurch Analogierelationen in der Art ›Sport ist wie Nation‹ bzw. ›Nation ist wie Sport‹ möglich werden (vgl. Mrozek 1983; Nixon 1984; Riess 1996). Rossi etwa weist auf die Verwendung von Termini aus dem Baseball in anderen als sportiven Zusammenhängen hin (»Our everyday language abounds with baesball terminology: out in left field, cleanup hitter, strike out, grand slam«) und konstatiert: »Baseball has formed an intimate link with Ameriacan history and culture for more than a century and a half.« (2000, 3) Macht man sich weiter klar, dass solche ›Brückenschläge‹ zig-fach anzutreffen sind und in bisweilen dichter Abfolge realisiert werden, dann erweist sich die Kopplung von ›Nation‹ und ›Sportspiel(en)‹ als ein daraus resultierender Effekt: Das Sportspiel wird durch seine Schnittstelle zum Symbolsystem auch zum gesamtgesellschaftlich relevanten Spiel, zum eben nationalen Sport (Abb. 5), oder, wie es Neil D. Berman formuliert hat: »Sport touches so many aspects of American life that it is an essential part of American ethos« (Berman 1980, 21, zit. nach Lobmeyer 1983, 36).