Am Wochenende vor der Tagung Fading of the Hero, die im März 2016 in Leuven (Belgien) stattfand, hatte ich zwei Aha-Erlebnisse, die mir zu einer – für ExpertInnen des Heroismus zweifellos ganz banalen, aber trotzdem grundlegenden – Einsicht brachten: Der Held ist tot, weil es einfach zu viele gibt. Während ein gequälter David Bowie 1977 noch danach verlangte, “wenigstens für einen Tag”, ein “hero” sein zu können, sich völlig der Vergeblichkeit seiner Sehnsucht bewusst, stimmt Måns Zelmerlöw auf dem Eurovision Song Contest 2015 das Volkslied unserer Zeit an, “the greatest anthem ever heard”, mit dem Refrain: “We are the heroes of the time”. Wir alle sind zu Helden unserer Zeit geworden, wir alle haben das Potenzial, Ausnahmefiguren zu sein.
Dann mein zweites Aha-Erlebenis – diesmal nicht im Wagen während des Rundfunkhörens, sondern während des Zeitungslesens: Unmittelbar nach der Festnahme vom Terroristen Salah Abdeslam erschien in der belgischen Zeitung Het Laatste Nieuws ein Artikel mit dem Titel: “Warum dieser Polizeihund ein Held ist”. Dieser einen Polizei- und Sprengstoffspürhund heroisierenden Bericht schließt sich der heftigen emotionalen Reaktion auf den Tod vom Polizeihund Diesel während der Antiterror-Operation in Saint-Denis an, der sogar zum Twitter-Hashtag #JeSuisChien Anlass gab. Der Heldenstatus verliert also nicht nur seine Quasi-Unerreichbarkeit (wie im ersten Fall), sondern gründet auf höchst selektiven Projektionsmechanismen: In diesem Fall setzt der Heldenstatus offensichtlich kein Selbstbewusstsein, keine Tragik, keine Selbstbestimmung mehr voraus. Beide Beispiele weisen aber auf die inflationäre Verwendung eines inzwischen völlig ausgehöhlten Konzepts hin.
Diese doppelte Feststellung ermöglicht einen kritisch-analytischen Einstieg ins abstruse (und auch abstrus populäre) Sachbuch Work Action Heroes. Over helden op de arbeidsmarkt (Work Action Heroes. Über Helden auf dem Arbeitsmarkt) von Fons Leroy. Leroy, Jahrgang 1954, ist seit 2005 der Direktor der VDAB, der Bundesagentur für Arbeit, und zog 2016 als eine Art Guru mit seinem Work-Action-Heroes-Programm durch Flandern. Allen MitarbeiterInnen der Hochschule PXL zum Beispiel wurde die Lesung, die er am 15. Februar 2017 in Hasselt hielt, integral als Videodatei zur Verfügung gestellt; darüber hinaus wurden die ArbeitnehmerInnen auch eingeladen, eine dazu gehörende Frageliste auszufüllen.
Der Ausgangspunkt von Leroys Publikation ist, dass der heutige Arbeitsmarkt Superhelden braucht, oder konkreter, dass wir alle uns zu Superhelden entwickeln können bzw. sollten. In der Einführung mit dem Titel “5 mei ‘78” verdeutlicht der große Comic-Fan Leroy, dass seine Idee zurückgeht auf ein Treffen mit dem bekannten amerikanischen Comicautor und Fernsehproduzenten Stan Lee, der mit Marvel Comics eine Reihe von klassischen Superhelden schuf: Spiderman, the X-Men, the Hulk, the Fantastic Four, usw. Es war Stan „The Man“ Lee, der ihm lehrte, den Arbeitsmarkt als einen Raum für Helden mit “superpowers” zu sehen. Während dieses Treffens am 5. Mai 1978, das – so Leroy – erst Jahrzehnte später wirklich zu ihm durchdrang, hatte Lee ihm das Geheimnis des Marvel-Erfolges enthüllt:
“jeder Superheld hat auch ein verletzliches, sehr menschliches Alter Ego, in dem jeder sich wiedererkennen kann. Das Alter Ego ist jemand wie du und ich, eine Durchschnittsperson mit einem ganz gewöhnlichen Leben. […] Stan Lee zufolge beweisen die Helden und ihre Alter Egos, dass das Superheldentum für jeden im Bereich des Möglichen liegt.” (8)
Was vermutlich als eine Aussage zum erforderlichen Identifikationspotenzial von narrativen Figuren gemeint war, hat in Leroys Kopf im Laufe der Jahrzehnte einige manipulative Eingriffe erfahren. Das Zusammenspiel von Wiedererkennbarkeit und Unerreichbarkeit, auf dem die Faszinationskraft von Superhelden basiert, gilt nicht mehr. Bei Fons Leroy hat der Superheld nämlich jede Transzendenz verloren: das Superheldentum ist völlig immanentisiert oder verinnerlicht. Jeder kann wirklich zum Superhelden werden. Wie wir noch besprechen werden, impliziert dies aber auch konsequenterweise, dass wer nicht zum Superhelden wird, selber Schuld ist.
In seiner Publikation präsentiert Leroy eine Typologie von sechs Superhelden. Es gibt mit anderen Worten sechs Typen von ArbeitnehmerInnen und Arbeitssuchenden, die sich zu einem gewissen Superhelden entwickeln könnten oder sollten. Hier eine Blitzübersicht:
Erstens gibt es Cafer Cando. Er steht für den Arbeitnehmer, der – mit oder ohne Diplom – seine wahren Kompetenzen zu zeigen lernt: Der unqualifizierte drop-out wird auf diese Weise zu einem CAPTAIN COMPETENCE. Bei dieser Transformation sieht er sich dem Feind DIPLOMA DEMON gegenüber. Glücklicherweise wird er aber unterstützt von Mr Peter Capabilitator und Mr Steve Possibility.
Zweitens gibt es Lena mit dem vielsagenden Nachnamen Lonesome, die sich aber zur Netzwerkexpertin DATE DEVIL entwickelt. Ihr Feind ist INTI MIDATO, der halsstarrig an traditionellen Bewerbungsverfahren und hierarchischen Umgangsformen festhält. Glücklicherweise wird ihr aber vom Ratgeberduo SUE SUPER CONNECTOR und STEFAN SUPER CONNECTOR geholfen.
Drittens gibt es Transitional Travis, der, sich der grundlegenden Unsicherheit (oder Scheinsicherheit) jeder Jobsituation bewusst, endlich selbst das Heft ergreifen und seine eigene Laufbahn bestimmen wird: Als COMMANDER CAREER soll er seinen Feind JACOB (JOB) P. ROTECTOR besiegen. Mr Flexible ist sein Berater und er verfügt über eine superpower namens PROFESSIONAL TIME MACHINE.
Daneben gibt es auch noch den unsicheren Außenseiter, Matthew Modest also known as LUMINOUS LUKE; den älteren, mit einem bore-out kämpfenden Angestellten namens Derrick Doyen, der aber zu einem mit TAMEMAN abrechnenden SILVER FOX wird; und schließlich tritt ja auch die impulsive Träumerin Eden Talent, auch bekannt als SURPRISE SUZY, auf.
Das Universum, das Fons Leroy in seinem Buch entwirft, ist dem bekannten Aktantenmodell von Algirdus Julien Greimas entsprechend aufgebaut. Es gibt mit anderen Worten immer ein Subjekt, das ein Objekt zu erreichen versucht, und dabei von Helfern und Mutmachern (das können ja auch sogenannte superpowers oder magische Attribute sein) unterstützt wird. Zugleich werden alle Figuren von deutlich identifizierbaren und deswegen auch leicht besiegbaren Feinden oder Obstakeln behindert. Diese Aktanten haben alle (nicht allzu hermetisch) verschlüsselte Namen, die eben darauf hinweisen, dass Sie abstrakte Prinzipien verkörpern. Das Leroy’sche Universum, das auch Universalität beansprucht, ist also von Grund auf typologisch ausgerichtet, was sich nicht anders als auf eine fast irrational rationalistische (d.h. absurde) Reduktion der Überkomplexität der globalisierten Welt belaufen kann, der Leroy mit seinem Modell eigentlich gerade gerecht werden möchte.
Jedem der 6 Arbeitshelden wird ein Buchkapitel gewidmet, das aus denselben sechs Komponenten besteht:
— einem ID-KIT, in dem der Protagonist in Stichwörtern vorgestellt wird;
— einem zweiseitigen Action Comic;
— einer Art literarischer Kurzgeschichte, in der der Entwicklungsgang der jeweiligen Figur konzis dargestellt wird;
— einem Zeugnis einer Expertin aus dem Bereich der HR;
— einem sogenannten Toolkit, d.h. einem Werkzeugkisten für Arbeitgeber;
— und schließlich einem Exposé von oder Interview mit einem bekannten, erfolgreichen belgischen Unternehmer.
Was ihren Körper, ihre Kostümierung und ihre Attribute betrifft, sind die Superhelden und Feinde aus altbekannten Versatzstücken der Action Comic-Tradition zusammengebastelt: sie sind muskulös und athletisch, maskiert oder gepanzert, haben ein Cape, usw. Auch die Szenerie ist prototypisch: Konsequent werden Großstadträume dargestellt, die plötzlich zum Stillstand kommen und deren Bevölkerung angesichts der herannahenden Katastrophe vor Angst gelähmt dasteht. Die zweiseitigen Comics des Zeichners Ivan Adriaenssens widerspiegeln gewissermaßen den Denkmodus des Autors, der auf einem monokausalen und dichotomischen Muster basiert. Ein leicht identifizierbarer Gegner tritt plötzlich auf und verstört das Gleichgewicht, aber im Moment, wo die Katastrophe sich zu vollziehen droht, steht der Superheld auf, zieht sich sowohl buchstäblich als auch figürlich um, und vernichtet mit seinen superpowers den Feind, und zwar mit einer klangmalerisch nachgezeichneten Gewaltsamkeit.
Auch in Leroys textuellen Narrativen scheint es zu genügen, den Gegner zu identifizieren, um ihn auch schon loszuwerden. Die Laufbahntrajekte, die er skizziert, sind fast ausnahmslos lineare Erfolgsgeschichten, in denen die Figuren plötzlich zur Einsicht kommen und dementsprechend zur Aktion übergehen: von Rückfällen, Zweifeln und Enttäuschungen, geschweige denn makrostrukturellen Machts- und Zwangmechanismen, ist eigentlich kaum die Rede. Nicht zufällig heißt es ja auch im Buch: “The sky is the limit” (mit der Ergänzung: “mit erfolgreichen Zwischenschritten”).
Wie altruistisch Fons Leroy auch Mut zu machen oder zu „empowern“ versucht, seine heroischen Narrative verstricken sich in einige Widersprüche. Zunächst gründet das Buch auf der Idee, dass wir ein Anteil an – ja – allem haben. Mustafa Harraq, einer von Leroys ExpertInnen, drückt es so aus: “Je bent zelf verantwoordelijk voor je leven. Je hebt in alles een eigen aandeel”. Oder wie der Manager eines Empowermentbüros und Autor Abkader Chrifi es formuliert: “Want wie bepaalt wat wij kunnen? Alleen wijzelf“ (137). Nur wir selbst bestimmen also was wir können und wollen. Das Buch propagiert mit anderen Worten die Vorstellung, dass wir alle Superhelden werden können, wenn wir nur durchhalten, wenn wir Selbstverantwortung übernehmen. Die Alternativen sind deutlich: drop-out, burn-out oder bore-out. Wenn wir uns selbst – bzw. unser unermessliches Potenzial – nicht verwirklichen, sind wir somit selber Schuld. Die Verinnerlichung des Heldenideals führt also – wie sehr das auch Leroys egalitärem Ausgangspunkt und Idealbild entgegenläuft – zu einer meritokratischen Leistungsgesellschaft, in der jedes Mitglied seine “verdiente” Position einnimmt. Nicht zufällig schließt Leroy seine “Schlussfolgerung” mit dem Titel “Keine Helden ohne Dich” mit der folgenden Botschaft:
Aber im VUCA-Universum (siehe weiter unten) stehen wir alle in Verbindung miteinander. Jeder hat also seinen individuellen Einfluss auf die größere Geschichte. Wenn du versagst, beschränkst du auch die Möglichkeiten der anderen. Entscheidest du dich aber, dich einzusetzen, entstehen auch Chancen für andere. Der VUCA-Arbeitsmarkt ist immer so stark wie sein schwächstes Glied. Es ist die höchste Zeit, unsere superpowers anzuwenden und mit einer riesenstarken Gemeinschaft zur Aktion überzugehen. An die Arbeit! (162)
Durch Scheitern wird man mit anderen Worten schuldig, schwächt man das Kollektiv. In dieser Hinsicht kritisiert Abkader Chrifi auch das negative Selbstbild von vielen Unterprivilegierten, die sichselbst als “Opfer der Umstände” (“slachtoffer van de omstandigheden”) (136) betrachten, statt positiv und voll Selbstvertrauen durchzuhalten und ihre wirkliche Potenz zu verwirklichlichen. Fons Leroys Publikation wird somit durch die von Jo Littler in Against Meritocracy diagnostizierten Selbstwidersprüche des ideologischen Paradigmas der Meritokratie gekennzeichnet. Die scheinbar egalitaristische Betonung von individualistischer Selbstverwirklichung (or “self-fashioning”) sei in Wirklichkeit eine taktische Verblendung und Beständigung systemischer Ungleichheit:
We have been encouraged to believe that if we try hard enough we can make it: that race or class or gender are not, on a fundamental level, significant barriers to success. To release our inner talent, we need to work hard and market ourselves in the right way to achieve success. (2)
(M)eritocracy today, in its neoliberal form, tends to endorse a competitive, linear system of social mobility and to function as an ideological myth to obscure inequalities, including the role this discourse of meritocracy itself plays in actually curtailing social mobility. Its myth of mobility is used to create the idea of a level playing field that does not exist. (50)
Die Schablone des Heldennarrativs, die Leroy einsetzt, führt darüber hinaus zu einer grundlegenden Ambivalenz, was die Selbstverwirklichung der Protagonisten betrifft. Wie “ein schlafender Held” (93) oder “schlafender Bär” (118) erweckt werden kann, wie somit das “Verborgene” aktiviert werden kann, bleibt undeutlich. Das Buch durchzieht eine rhetorische Opposition zwischen einerseits der Tropologie der Bildung, des Wachsens, der Entwicklung, des Prozesses, und andererseits der Tropologie der Transformation, Verwandlung, Plötzlichkeit – wie sie dem eigentlichen Modus Vivendi des Superhelden entspricht. Einerseits “ontplooit” (entfaltet) sich der Arbeitnehmer, andererseits “ontpopt” (entpuppt) er sich – öfters durch einen neuen externen Impuls.
Was nach Leroy feststeht, ist, dass ein Mentalitätswandel unabdingbar ist, konkreter: eine Transition vom Traditionellen zum Transitionellen. Oder wie es programmatisch im Kapitel zu Commander Career heißt: “Die traditionelle Laufbahn besteht nicht mehr. Die transitionelle Laufbahn ist springlebendig!” (67) Diese fixe Idee des Transitionellen schließt sich der allgemeinen Gesellschaftsdiagnose Leroys an: Ihm zufolge sind wir nach der digitalen Revolution und der Globalisierung endgültig und unumkehrbar im VUCA-Universum angelangt. Das Acronym VUCA beschreibt die veränderten Rahmenbedingen, unter denen heute Entscheidungen getroffen werden müssen: die VUCA-Welt ist eine Welt, in der Volatility (Unberechenbarkeit), Uncertainty (Ungewissheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Ambivalenz) herrschen. In dieser Welt ist – so Leroy – “Stabilität ein Traum und sind Sicherheit, Einfalt und Eindeutigkeit Utopien. Oder bestenfalls Erinnerungen an die Zeit vor der großen Informationsrevolution” (18). Dementsprechend evoziert Leroy in poetischen Szenen, wie “ältere Bewohner” der VUCA-Welt manchmal “abends auf einer sommerlichen Terrasse oder am winterlichen Holzfeuer vor sich hin starren”, während ihre Kinder mit den neuesten Apps und Games spielen. Mehr noch, er spielt sogar intertextuell auf einen Klassiker der niederländischsprachigen Literatur an: den 1953 herausgegebenen Roman Kappelekensbaan von Louis Paul Boon. Leroys Kappelekensbaan ist eine Straße mit ‘heiligen Häusern’, wo diejenigen wohnen, die Angst haben vor der Konfrontation mit dem Unbekannten und Unsicheren. Obschon Leroys Gesellschaftsdiagnose eigentlich sehr kulturpessimistisch anmutet, schüttelt er selber den Pessimismus ab; er plädiert für die heroische „Flucht nach vorn“: „Aber es gibt keinen Weg zurück. Es ist also besser die Flucht nach vorn anzutreten.“ (18) Work Action Heroes sind also diejenigen, die sich anpassen, diejenigen, auf die die Devise zutrifft: tue recht und schau nicht um. Dass das Akronym VUCA eigentlich aus dem militärischen Bereich stammt und erst nachher auf den wirtschaftlichen Bereich transponiert wurde, schimmert übrigens in Fons Leroys’ Bericht über Transitional Travis, besser bekannt als Commander Career, durch. Plötzlich denkt Travis zurück an seine Tage in der Armee:
Hij dacht in die dagen terug aan het leger en aan wat hij in die zeventien maanden had geleerd. Hij had gezien dat de technologie zich razendsnel ontwikkelde. De wereld draaide almaar vlugger, werd onzekerder en ingewikkelder. Je kon misschien denken dat je veilig was, maar dan werd je plots toch aangevallen. De kunst was het heft zelf in handen te nemen en niet te vertrouwen op zogenaamde zekerheden. Travis geloofde dus ook niet meer in jobzekerheid. Wie zich in die comfortabele positie nestelde, raakte op een mooie dag alles kwijt. (56-57)
Was sich hier manifestiert, ist eine manische paranoide Logik, nach der jede Sicherheit nur eine trügerische Scheinsicherheit sein kann. Nie kann man sich ausruhen, ständig soll man auf der Hut sein. Dieser heraufbeschworene permanente Alarmzustand führt, wie u.a. der Philosoph Gerald Raunig in Fabriken des Wissens (2012) analysiert hat, zu einer Präkarisierung des Alltags. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der Flexibilität zu einer despotischen Norm wird, in der jeder “flexibel, spontan und mobil oder selbstausbeuterisch, unabgesichert und zur Mobilität gezwungen, […] arbeiten und leben [soll]” (Raunig, 46), eine Gesellschaft, in der jeder sich auch permanent weiterentwickeln oder ausbilden sollte (31). Diese Ideologie der Flexibilität setzt sich konsequent im gesamten Buch, und nicht zuletzt auch in den Zeugnissen der Topmanagerinnen und HR-Expertinnen, durch. Der VUCA-Strateg Mr Flexible zum Beispiel ist eine der Ratgeberfiguren, die ein dezidierter Befürworter des „lebenslangen Lernens“ ist und die seinen AdeptInnen einprägt, dass sie “akzeptieren sollten, dass in ihrer Laufbahn nichts sicher, aber zugleich alles möglich ist” (58). Diese homöopathische Strategie, wobei Unsicherheit („nichts sicher“) mit weiterer Unsicherheit („alles möglich“) bestritten werden soll, bringt die HR-Direktorin von McDonald’s folgendermaßen auf den (paradoxen) Punkt: “Om die onzekerheid het hoofd te bieden, moet een medewerker flexibel zijn en in alle omstandigheden zichzelf kunnen/mogen blijven.” (36) Dass Flexibilität ganz im Gegenteil zu einer zwangmäßigen Selbstauflösung des Ich – oder, wie Jo Littler es nennt: „flexploitation“ (185) – zu führen droht, argumentiert zum Beispiel der deutsche Autor Reinhard Jirgl:
Als ein Grundwert in den gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsfeldern gilt mittlerweile ein Begriff von “Flexibilität”, der jedoch das gerade Gegenteil vom ursprünglichen Begriffsinhalt ausmacht. Was einst dem Grad an Biegsamkeit eines Charakters während ungünstigen äußeren Lebenslagen entsprach, das meint heute die bedenkenlose Anpassung an jedwede Manipulation auf dem Arbeitsmarkt hin zur allseits kompatiblen Personeneinheit ohne Skrupel. Einst verfügte die Flexibilität eine Stärkung, heute den Zwang zur Selbstauflösung des Ich.
Demgemäß illustrieren die Zeugnisse von BetriebsleiterInnen und HR-ExpertInnen, dass sie an erster Stelle nicht über das Wohlergehen Ihrer ArbeitnehmerInnen, sondern vielmehr über die Produktivität ihres “human capitals” (69) besorgt sind. Wie das magische Attribut von Silver Fox andeutet, die „WIN-WIN-WAND“, wird nicht zuletzt eine Win-win-Situation anvisiert. Die Gespräche mit oder Zeugnisse von BetriebsleiterInnen demonstrieren, wie Leroys Begriffsapparat als ein Arsenal von buzzwords instrumentalisiert werden kann, um die harte Realität plastisch zu erweichen: die Steigerung von Profit und Produktivität. (Dies entspricht auch der Terminologie der „soft skills“, wie „Pünktlichkeit, Disziplin, Teamwork und Selbstständigkeit“ (34)). Diese opportunistische Operationalisierung zeigt sich exemplarisch an komprimierten Aussagen, wie „Die filosofie proberen we bij McDonalds’s uit te dragen: wees een Captain Competence, ontwikkel je tot Commander Career en vergeet Surprise Suzy niet” (36), “Wouter Torfs is een grote fan van Silver Fox en Captain Competence, maar ook Date Devil wordt in de watten gelegd” (51) oder “Nike ondersteunt Commander Career en Captain Competence, maar volgens Filip Peeters word je geen van beide zonder aandacht voor Date Devil” (119). Deutlich ist Leroys Typologie auch ein “Toolkit”, das es Betrieben ermöglicht, “besseres Aas aus dem Teich der Arbeitsuchenden zu fischen” (30).
Das angeblich für ArbeitnehmerInnen und Arbeitssuchende entwickelte Instrumentarium kann sich hinterrücks zu einem Disziplinierungsmechanismus entwickeln. Wenn zum Beispiel Lena Lonesome sich in Über-Netzwerker Date Devil verwandelt, kommt das nicht nur ihr zugute, sondern an erster Stelle dem Betrieb, der durch ihr Verhalten die Besucherzahlen seiner Website erhöht, die online Aktivität steigert und das eigene Netzwerk vergrößert. Das scheinbar selbstbestimmte Verhalten wird mit anderen Worten zu einer merkantilen Direktive. Dass die Ermunterung an Arbeitssuchende, digital aktiv zu sein, in eine gebieterische Vorschrift, dessen Befolgen kontrolliert wird, umschlagen kann, legte übrigens eine Kontroverse im September 2017 bloß: es stellte sich heraus, dass die von Leroy geführte Agentur für Arbeit VDAB das Klick- und Surfverhalten von Arbeitssuchenden auf der VDAB-Website registriert, evaluiert und auch sanktioniert (d.h. im Falle von auffälliger Inaktivität werden Feedbackmomente veranstaltet). In einem Zeitungskommentar verteidigte Leroy die strategische Erkundung und Verwendung von big data, indem er angab, vom VDAB „das Amazon des Arbeitsmarktes“ machen zu wollen.
Nur allzu gerne verwenden also Bonzen wie der belgische Schuhmagnat Wouter Torfs das Vokabular Fons Leroys: Torfs Happiness-Programm garantiere – so Torfs‘ Slogan – “360 graden zorgzaamheid = 360 graden winst” (50). Wenn Leroy Torfs‘ „holistische“, vom Buddhismus inspirierte Betriebskultur skizziert, greift er auffälligerweise auf eine doppelte Metaphorik zurück: einerseits auf die Tropologie des Patriarchalen, nach der Torfs als „Familienvater“ (50), oder wie ein sorgsamer Patriarch, für seine Sippe sorgt, andererseits auf die Tropologie des Pastoralen, wobei Torfs als “Hüter” der Herde und sein Betrieb sogar als “eine Kirche” dargestellt wird. Der Titel des Kapitels lautet programmatisch “Schoenen Torfs, een bedrijf als een kerk”; der Schuhladen – und allgemeiner der Arbeitsplatz – scheint sogar die spirituelle Leere, die der Rückzug des Christentums in unserem säkularisierenden Zeitalter hinterlassen hat, aufzufüllen: “de werkvloer (is) een plaats waar mensen zin en betekenis aan hun leven kunnen geven, zoals dat vroeger in de kerk gebeurde.” (52)
Die bereits besprochene Freund-Feind-Dichotomie, auf der Fons Leroys Universum basiert, läuft letztendlich auf eine Opposition zwischen Konservativen oder Traditionalisten einerseits und vermeintlich revolutionären VUCA-Innovatoren andererseits hinaus. Diese Vorstellung kulminiert im absurden Kapitel “The Final Battle: Work Action Heroes vs vijanden”. Die Sechsermannschaft wohnt einem VUCA-Infomarkt bei, auf dem auch Abkader Chrifis Theaterstück “De Regisseur” (Der Regisseur) aufgeführt wird. Für sein Buch und Stück ließ Abkader sich offensichtlich von William Shakespeare inspirieren: “Shakespeare ponierte: das Leben ist ein großes Spiel, mit den Menschen als Spielern. Abkader Chrifi zufolge hat auch der Arbeitsmarkt seine Regel. Die sollst du kennen, wenn du am Spiel teilnehmen willst. Man braucht ja Strategie, Einsatz, Leidenschaft und Disziplin.” (124) Shakespeares bekanntes „Life’s a stage“- or „Life’s a play“-Zitat wird hier als frei manipulierbares geflügeltes Wort merkantillisiert. Die Tendenz, kulturelle (Inspirations-)Quellen heranzuziehen, um den eigenen (Arbeitsmarkt-)Heldenstatus intellektuell zu legitimieren, manifestiert sich in Leroys Buch wieder und wieder: Während „stress, life und mental coach“ Mustafa Harraq auf „Martin Luther King, Malcolm X, Mohammed Ali, den Dalai Lama, Gandhi, Jezus, Mohammed, Nelson Mandela und viele andere” (64) als Vorbilder hinweist, bringt Leroy Hans Bourlon, den CEO eines der größten europäischen Unternehmen für Kids & Family Entertainment und somit selber einen Produzenten von populären Helden, mit Achilles, Aeneas, Hector, Plato, Nietzsche und Heidegger in Verbindung. Allerdings, während des Stücks „Der Regisseur“, in dem natürlich nochmals als eine Art mise-en-abyme eine Laufbahngeschichte aufgeführt wird, bricht plötzlich die Unruhe ein:
Was ist denn das? Plötzlich bezieht sich der helle Himmel und fallen dicke Regentropfen. Die Menschen sahen sich erstaunt um. Huh? Dies hatte doch niemand vorhergesagt? War sogar der Wetterbericht heute nicht mehr verlässlich? (127)
Plötzlich tauchen die versammelten Feinde am Horizont auf: sie werden als “böse Demonstranten, die nichts am Arbeitsmarkt ändern wollen”, beschrieben: “Sie skandieren: ‘Wir wollen Jobsicherheit wie in der guten alten Zeit! […] Es lebe die Tradition!‘“ (127). Durch die zusammengeballte Kraft, und konkreter Überzeugungskraft, der sich wie Power Rangers vereinigenden Superhelden und ihrer zahllosen Anhänger wechseln letztendlich alle “Angsthasen” ins VUCA-Lager über. Dass diese Parabel mit “einem großen Sieg für den VUCA-Arbeitsmarkt“ (128) endet, überrascht vermutlich nicht. Was aber auffällt, ist das Motiv der Demonstration, das zum ersten Mal im Heldennarrativ auftaucht: In diesem “Final Battle”, diesem Kampf auf Leben und Tod also, werden die Feinde plötzlich als populistische, konservative Aufhetzer dargestellt. Wenn man bedenkt, dass VUCA und VOKA fast Homonyme sind (VOKA ist das flämische Netzwerk für Unternehmen) und wenn man auch bedenkt, dass Fons Leroy die Gewerkschaften 2014 als ein rückständiges Phänomen aus dem 20. Jahrhundert umschrieb, bekommt das Feindbild plötzlich eine neue, recht konkrete Dimension: die Gewerkschaften werden als konservative Feinde der notwendigen Modernisierung betrachtet.
Bleibt zum Schluss noch zu fragen, welche Rolle Fons Leroy sich selber beimisst, taucht er ja doch auch selber ständig prominent im Heldenuniversum auf – und zwar (anagrammatisch) als Dr. Roy Lee. Deutlich tritt er als Mentor auf, als derjenige, der seine Adeptinnen coacht, “empowert” und aussendet. Er vergleicht sich mit dem Marvel-Helden Doctor Strange; „Hail the Master“ lautet nicht zufällig die Devise auf den Covers dieser Comic-Reihe. Leroy porträtiert sich als “een magische fikser”, er ist – wie er selber betont – ein “Regisseur der VUCA-Welt” (160), der Drahtzieher, der – wie auch viele andere DoktorInnen und ProfessorInnen im klassischen Heldenkosmos – ein Team von Helden koordiniert. Leroy stilisiert sich mit anderen Worten zum “Work Creation Hero” (161), dessen Mission daraus besteht, sich selbst überflüssig zu machen. Am Ende des Buches heißt es denn auch prophetisch: “Let the Battle of the Work Action Heroes begin! And I’m sure they will win!” (164). Die Frage, die auch schon John Lennon sich stellte, ist aber, zu welchen Kosten:
There’s room at the top they’re telling you still
But first you must learn how to smile as you kill
If you want to be like the folks on the hill
A working class hero is something to be
A working class hero is something to be
If you want to be a hero well just follow me
If you want to be a hero well just follow me